Am Anfang steht eines dieser typischen Ulrich-Seidl-Tableaus. Es ist dasselbe, mit dem der österreichische Regisseur auch „Rimini“ beginnen ließ, das kurz vorher erschienene Bruderstück zu „Sparta“: Eine Gruppe von Rentner:innen sitzt nebeneinander aufgereiht im Aufenthaltsraum eines Seniorenheims und intoniert das Fassnachtslied So ein Tag, so wunderschön wie heute. Die Stimmen singen schleppend, schwach und zittrig durcheinander, nur wenig ist schön an diesem Tag und in diesem Leben, das stellt Seidl gleich zu Anfang unmissverständlich klar – so weit, so bekannt.
Seidl ist im Laufe seiner mittlerweile fast vier Jahrzehnte umspannenden Karriere immer wieder kritisiert worden – weniger für die Art, wie er Filme macht, als vielmehr für seine Form und die dahinter vermutete Haltung. Natürlich ist beides nicht voneinander zu trennen: Seidls Ansatz, Dokumentarisches zu ästhetisieren und fiktionalen Stoffen etwa durch reale Schauplätze, Improvisation und den Einsatz von Laiendarsteller:innen einen dokumentarischen Spin zu geben, hat zu einer unverwechselbaren Durchlässigkeit geführt – seine Spielfilme muten oft mehr wie Dokumentarfilme an und vice versa. Gleichzeitig musste sich Seidl für Filme wie Paradies: Liebe oder Im Keller regelmäßig den Vorwurf gefallen lassen, er führe seine Protagonist:innen vor, gebe sie der Lächerlichkeit preis. Auch das ist mindestens nachvollziehbar, wenn die starren, oftmals stummen Schaukastenbilder in einem Modus des erbarmungslosen Draufhaltens verharren und Seidl darin mit Vorliebe das Peinliche, Befremdliche hervorkehrt – aus einer Position heraus, die sich zum einen davon ausnimmt und zum anderen eher ein Irritiertsein anvisiert als ein Verstehenwollen.
Nun also Rimini und Sparta, zwei Filme, die eigentlich einer werden sollten, die immer noch Spuren voneinander enthalten, nun aber getrennt voneinander veröffentlicht werden. Im Fokus stehen zwei Brüder. Beide zieht es – in einer Art Fluchtreflex vor dem Bekannten, der Vergangenheit und sich selbst – ins Ausland, den einen nach Rimini, den anderen ins dörfliche Rumänien. Nachdem Rimini, der Michael Thomas als abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo durch eine trübgraue Urlaubshölle voll begrabener Träume begleitete, von vielen Rezipient:innen nicht ganz zu Recht als business as usual beiseitegelegt wurde, hat Sparta nun für die erste richtige Seidl-Kontroverse gesorgt. Diese dreht sich erstmals nicht um das Sichtbare, sondern um das Dahinterliegende, genauer: die Produktionsbedingungen.
Am 2. September 2022 erschien ein Artikel des Spiegels, dem eine mehrmonatige Vor-Ort-Recherche zugrunde lag. Einige Eltern minderjähriger Laien beschuldigten Seidl und sein Team, sie nicht ausreichend über das Thema des Films – Pädophilie – informiert zu haben. Zudem ging es um wenig kindgerechte Arbeitszeiten sowie eine fehlende Sensibilität gegenüber der problematischen Lebensrealität mancher Kinder bis zur Retraumatisierung. Das Toronto International Film Festival sagte die geplante Weltpremiere daraufhin ersatzlos ab, nachgeholt wurde sie schließlich im Rahmen des Filmfestivals von San Sebastián – hier erklärte man, die Uraufführung nur dann aus dem Programm streichen zu wollen, wenn ein entsprechender Gerichtsbeschluss vorliege. Seidl selbst veröffentlichte eine ausführliche Gegendarstellung und wies – wie auch andere Mitglieder der Crew – in mehreren Interviews einen Großteil der Anschuldigungen von sich; die Ermittlungen sind derweil wieder aufgenommen worden.
Was macht man mit einem Film, der von einer Diskussion um Ausbeutung und Kindeswohlgefährdung überschattet wird? Nun: ihn sich im Zweifel erst einmal anschauen. Denn zur Ambiguität des Sachverhalts gehört auch, dass die Vorwürfe mit Sparta einen Film treffen, auf den viele der wiederkehrenden ästhethischen und perspektivischen Kritikpunkte nicht so leicht anzuwenden sind. Schon in der Kameraführung offenbart sich eine Veränderung: Die Zahl der künstlich symmetrisierten, bewegungslosen Totalen und Halbtotalen ist deutlich verringert, an ihre Stelle rückt wie schon bei Rimini eine erstaunlich agile Handkamera. Seidl zwingt die Figuren nicht mehr in die von ihm gewählten Bildausschnitte, sondern folgt ihnen nach und lässt sie auf diese Weise das Blickfeld bestimmen.
Ewald (in seiner ureigenen Mischung aus Rauheit und clumsiness: Georg Friedrich) verschlägt es als Ingenieur nach Rumänien, nicht etwa ins urbane Bukarest, sondern das provinzielle Hinterland. Dort lebt er mit seiner Partnerin Aurica (Florentina Elena Pop), und obwohl ihr Miteinander durchaus liebevoll ist, offenbaren sich im Sexuellen erste Risse: Ewald bekommt keinen mehr hoch, und wenn doch, bedarf es dafür erheblicher Anstrengungen. Dass das weder biologische Ursachen hat noch mit einem „Kann ja mal passieren“ zu den Akten gelegt werden kann, scheint sich zu bestätigen, als Ewald kurz nach der fehlgeschlagenen Sexanbahnung etwas zu sehr im Toben mit Auricas Neffen und dem daran geknüpften Körperkontakt aufgeht. Beim abendlichen Fernsehen wandert seine Hand dann an den Schultern der Kinder entlang, auf eine Art, die nicht die einer Onkelfigur ist – und spätestens, wenn er sie verzagt zurückzieht, wissen wir: Ewald unterdückt seine pädophilen Neigungen.
Dennoch sucht er den Kontakt zu Kindern, wo es nur geht, wenngleich ihm die Unmöglichkeit seines Begehrens bewusst zu sein scheint. Wenn er sich spontan in eine Schneeballschlacht einschaltet, muss er sich erst selbst infantilisieren, die Rolle des Erwachsenen abstreifen, um mit den Jungen auf vermeintliche Augenhöhe zu kommen. Seidl beobachtet das nicht nur mit großer Genauigkeit, sondern auch – und das ist neu – mit Empathie, auch wenn ihm alles Sentimentale weiterhin fernbleibt. Damit macht er es sich und uns nicht unbedingt leichter: Sein Vorhaben, sich in Ewalds Zustand des permanenten Getrieben- und Gefangenseins einzufühlen, ohne zugleich eine Relativierung vorzunehmen, ist notwendigerweise ein Drahtseilakt. Das gilt umso mehr, weil Ewald sich gegen jede Vernunft dazu entschließt, eine alte, marode Dorfschule anzumieten und dort Judokurse für Jungen anzubieten.
Die Aktivitätsmöglichkeiten vor Ort halten sich in Grenzen, und so nehmen die Eltern der Kinder das Angebot zunächst dankend an. Ihre – und unsere – Besorgnis wächst, als Ewald damit beginnt, das eigentlich zweckgebundene Refugium zu einer Art Festung auszubauen. Am Tor prangt die Aufschrift „Sparta“, mit Ausnahme von ihm bleibt Erwachsenen der kennwortgesicherte Zutritt verwehrt. Wenn Ewald den Jungen auch äußerlich den Look von antiken Kriegern verpasst, mutet es wie eine selbsterfüllende Prophezeiung an, dass wenig später eine Gefahr von außen den unsafe space erschüttert: Bald versuchen die Eltern, mit Gewalt in das Fort einzudringen, um ihre Kinder zu befreien und Ewald davonzujagen. Hier versucht sich Seidl einerseits an einer narrativen Zuspitzung, wie man sie bei ihm nur selten findet, andererseits treibt er ebenso die Ambivalenzen seines Films zum Äußersten: Auch die Häuser, in denen die Familien leben, sind kein sicherer Zufluchtsort, die Verhältnisse nicht selten zerrüttet von Armut, Alkoholismus und toxischen Männlichkeitsentwürfen. Der Feldzug der Eltern ist somit auch der Versuch, eine Ordnung wiederherzustellen, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Vor diesem Hintergrund kann Ewald auch die vakante Position eines Kümmerers und Fürsorgers einnehmen und wird dadurch zur doppelten Bedrohung für die Dorfgemeinschaft.
Natürlich geht auch eine ganz reale Bedrohung von ihm aus: Der trotz seiner durchschnittlichen Statur im Kontrast zu den Kindern oft hünenhaft wirkende Mann in seinen 50ern kämpft weiterhin gegen seine Sexualität, und wenn er auch vor Berührungen und konkreten Übergriffen zurückschreckt, ist es denkbar unangenehm mit anzusehen, wie er mit den 10- bis 14-Jährigen den Duschraum aufsucht. Einmal vergrößert Ewald von ihm gemachte Fotos der lediglich mit Unterhose bekleideten Jungen auf dem Fernsehbildschirm und zoomt langsam über ihre halbnackten Körper – an dieser Stelle wird es tatsächlich grenzwertig, sodass es schwerfällt, Ewalds Verhalten nicht mit der Methodik des Films kurzzuschließen.
Zurück zum eingangs erwähnten Seniorenheim: Hier vegetiert – offensichtlich kurz vor seinem Tod – der Vater (Hans-Michael Rehberg) von Ewald und Richie vor sich hin, irrt verloren durch die Gänge und wird inmitten des dementen Siechtums blitzlichtartig von Erinnerungsfetzen heimgesucht, die ihn zurück in die Behütetheit seiner Kindheit tragen oder Nazilieder singen lassen. Die Wurzeln des individuellen Leids liegen nicht zuletzt in über Generationen weitergereichten Traumata. Das Vergangene lässt uns selbst dann nicht ruhen, wenn die Gegenwart schon vor unseren Augen verschwimmt. Dieser klammerartige Überbau findet sich mit teils identischen Szenen sowohl in Rimini als auch Sparta wieder, und vielleicht wäre er im Kontext des Gesamtwerkes besser aufgegangen. Gleichzeitig profitiert Sparta von seiner Konzentriertheit. Wie der Regisseur in Rimini eine fragile Vater-Tochter-Annäherung dazu nutzt, von der Tristesse und dem Transzendenzpotenzial von Schlagern zu erzählen, hätte sich schwerlich mit dem unbehauenen Quasi-Neorealismus von Sparta vertragen. Am Ende steht Ulrich Seidls streitbarster Film seit Langem, aber – so viel Ambivalenz muss man aushalten – auch sein bester.